„Wenn der Job keinen Spaß mehr macht, werd‘ ich Wirtin auf einer Berghütte.“ Eine flotte Ansage, die mir in den vergangenen Jahren etliche Male über die Lippen kam, eher mit einem schelmischen Lächeln denn ernst gemeint – und doch, seit einigen Monaten bin ich als ehrenamtliche Hüttenwirtin im Einsatz. Klingt cool? Ist cool – und übertrifft meine Erwartungen in vielerlei Hinsicht. Hier nun meine Erfahrungen:
Alles begann mit einer Überschrift in einem Newsletter, die meine Aufmerksamkeit fesselte: Abenteuer Hüttenwirtin auf Zeit … warum eigentlich nicht? Warum nicht meine flotte Ansage dem Realitätscheck unterziehen. Eine kurze Mail, ein Telefonat, eine Video-Meeting, ein Kick-off vor Ort und schon gehörte ich zum Team der ehrenamtlichen Hüttenwirt*innen der Naturfreunde am Anton-Proksch-Haus in Werfenweng.
Die Aufgaben sind schnell erklärt: Gäste einchecken, Hausordnung erklären, Fragen beantworten. Beim Check-out kontrollieren, ob alles passt. Dazwischen als Ansprechperson fungieren. Ein Auge auf das Haus haben, sich verantwortlich fühlen, ohne ständig präsent sein zu müssen. Eigentlich keine große Sache, dennoch ein abwechslungsreiches Abenteuer mit vielen unterschiedlichen Facetten.
Nehmen wir mal die Verpflegung her. Das Proksch-Haus wird auf Selbstversorgerbasis geführt, es steht eine Küche zur Verfügung. Lebensmittel werden von den Gästen selbst mitgebracht, oder sie essen auf einer der umliegenden bewirtschafteten Hütten. Hier begann für mich bereits die erste Lernerfahrung: Was und wie viel davon brauche ich? Mit jedem Einsatz wurde mein Rucksack „leichter“, identifizierte ich Unnötiges. Meine Zeit am Berg wurde Impulsgeber für eine Art von pragmatischem Minimalismus. Ich erkannte, wie viel weniger ich brauchte als ich zuvor glaubte zu brauchen.
In einer Zeit, in der wir über Ausbeutung der Ressourcen unseres Planeten diskutieren, in der Jahr für Jahr Tonnen an Lebensmitteln in privaten Haushalten verrotten, stellt sich für mich die Frage: Was brauche ich wirklich, um gut zu leben? Weder Askese noch Übersättigung. Wie viel brauche ich, wie viel kann ich selbst tragen? Der goldene Mittelweg als Ziel. Leben in einer Berghütte auf 1.600 m Seehöhe bedeutet für mich auch, vorübergehend aus dem Alltag auszusteigen und neue Konzepte zu erproben. Das Proksch-Haus bietet zwar mit fließendem Warmwasser, Strom, Waschräumen und WC im Haus einiges an Komfort (inklusive WLAN), aber auch einiges an Bedingungen, die zum Neudenken anregen. So gibt es z.B. keine Müllabfuhr am Berg. Was mit raufgebracht wird, darf auch wieder runtergetragen werden. Verpackungen von Nahrungsmitteln und dergleichen, die sich in diversen Müllsäcken häufen. Anders als zuhause, genügt es nicht, einmal kurz vor die Tür zu gehen und diese in die entsprechenden Container zu stopfen. Die gefüllten Müllsäcke dürfen 600 Höhenmeter nach unten transportiert werden. Erneut stellt sich die Frage: Was und wie viel brauche ich wirklich?
Gewiss, wenn es um die Ausbeutung unseres Planeten geht, haben Politik und Wirtschaft noch sehr viel umzusetzen. Gleichzeitig darf das keine Ausrede für Einzelpersonen sein, nichts zu tun. Jeder von uns kann etwas beitragen. Beim Packen eines Rucksacks, den man anschließend aus eigener Kraft gut 2 Stunden bergauf tragen wird, entwickeln sich mitunter völlig andere Facetten des Themas, als wenn man bequem auf dem eigenen Sofa chillt. Plötzlich wird am eigenen Leib spürbar, was Überfluss (im Rucksack) bedeutet. Eine Erfahrung, die ich jederzeit gerne weiterempfehle. Insbesondere, wenn man das Gefühl hat, zu wenig zu haben. Von jedem Einsatz auf dem Berg kam ich mit dem Gefühl zurück, viel zu viel zu haben, eine Menge Ballast, der eigentlich unnötig war.
Leben auf dem Berg lehrt Achtsamkeit und Genügsamkeit.
Mein beruflicher Alltag wird dominiert von Tempo, Verantwortung, Entscheidungen, Belastungen … vereinfacht gesagt: Stress. Wirklich abschalten gelingt eher selten, was auch dem allgemein beschleunigten Lebensstil geschuldet ist. Ruhig werde ich am ehesten in der Natur. Oben am Berg kommt diese Ruhe zu mir. Während der Wintermonate (=Skisaison) setzt sie ein, sobald die Seilbahnen zum Stillstand kommen und die Pistenarbeiten beendet sind. Dann wird es still am Berg. Ganz still. Kein Hintergrundrauschen des Straßenverkehres, keine lärmenden Nachbarn. Es wird einfach still – und dunkel. Keine störenden Lichtquellen. Leben am Puls der Natur. Leben, wie wir Menschen es über Tausende von Jahren gewohnt waren. Bestimmt vom Lauf der Sonne. An diesen Abenden sitze ich und schaue einfach nur aus dem Fenster, beobachte spektakuläre Sonnenuntergänge, die ein sich ständig veränderndes Kunstwerk aus Farben auf den Abendhimmel zaubern vor der imposanten Kulisse des Tennengebirges.
Morgens weckt mich das Gebimmel von Kuhglocken in den Sommermonaten. Einfaches Frühstück auf der Terrasse in der klaren Gebirgsluft – ein kraftvoller Start in einen Tag, der sich keinem von Menschen gemachten Plänen unterwirft. Selbstverständlich werden Bergtouren sorgfältig geplant, aber das letzte Wort spricht die Natur. Passt das Wetter, geht’s raus zum Wandern, erkunden, in der Wiese liegen, Schmetterlinge beobachten … passt das Wetter nicht, bleibt man drinnen und betreibt gute alte zwischenmenschliche Konversation, Gesellschaftsspiele, gemeinsames Kochen. Entschleunigtes Leben im Takt der Natur. Eine wunderbare Gelegenheit wieder die Kleinheit des Menschen zu spüren. Bei all unserem Wissen und unserer Technologie, wenn ein Unwetter über die Berggipfel zieht, regiert die Natur und der Mensch hat sich anzupassen.
Leben auf dem Berg lehrt Respekt und Demut.
Durch saftige Almwiesen zu streunen, den würzigen Duft von Föhrenwäldern einzuatmen, das klare Quellwasser zu schmecken, verbindet mich mit den Wurzeln meines Menschseins. Heute wachsen viele Kinder im urbanen Bereich auf, ohne Bezug zur Natur, im Takt von Smartphone und Social Media, mit unzureichend Bewegung an frischer Luft und einem Übermaß an hochverarbeiteten Nahrungsmitteln. Die Auswirkungen all dessen werden wir wohl in den kommenden Jahren noch deutlicher als bisher zu spüren bekommen. Einige Neurowissenschaftler schlagen bereits Alarm und empfehlen analoge Aktivitäten als Ausgleich zur digitalen Beschleunigung, um dem Gehirn zwischendurch auch Erholungsphasen zu gönnen, denn dieses Wunderwerk der Evolution ist allen Gerüchten zum Trotz keine Maschine. Auch mein Arbeitsalltag wäre ohne Digitalisierung nicht mehr vorstellbar, umso mehr zieht es mich raus in die Natur und rauf auf die Berge. Die flotte Ansage wurde für mich zu einer wertvollen Lebensergänzung.
Oben am Berg begegnen sich Menschen, sprechen Fremde miteinander, tauschen Tipps und Erfahrungen aus. Sich zu grüßen gehört dazu. Menschen nehmen einander wahr – ganz anders als zumeist im urbanen Bereich, wo wir aneinander vorbeihetzen, in Öffis 9 von 10 aufs Handy starren und viele ihre Nachbarn nicht mehr kennen. Zu meinem beruflichen Alltag gehört auch jenes, das unter dem Oberbegriff „Sozialkompetenz“ zusammengefasst und in Schulungen angeboten wird. Daran denke ich häufig mit einem Schmunzeln, wenn ich mit den „Bergmenschen“ zu tun haben, denn für sie ist Sozialkompetenz noch ein integrierter Bestandteil ihres Lebens und nichts, das man extra lernen müsste. Vielleicht liegt das an der Nähe zur Natur, vielleicht daran, dass man da oben aufeinander angewiesen ist, anders als in der Anonymität der Großstadt.
Meine Einsätze als ehrenamtliche Hüttenwirtin auf Zeit haben regen Einfluss auf mein kreatives Schaffen, ließen den einen oder anderen lebensphilosophischen Gedanken einer Beobachtung in freier Wildbahn entspringen oder auch einer „zufälligen“ Begegnung irgendwo draußen in der Natur.
Manchmal werde ich gefragt, ob ich keine Angst hätte, so allein da oben in einer Berghütte. Meine Antwort darauf lautet: Nein. Im Gegenteil, ich fühle mich wesentlich sicherer als in der Großstadt, selbst wenn gerade keine Gäste da sind und ich völlig allein im Haus bin. Vielleicht liegt das daran, dass ich langsamer und tiefer atme, dass ich mich mit der Natur rund um mich verbunden fühle, dass ich mit mir selbst als Mensch ins Reine komme, da oben am Berg.